Vorgeschichte: Sprachwissenschaft in Köln bis 1945
Nach der Wiedergründung der Universität im Jahre 1919 wird Sprachwissenschaft in Köln am Deutschen Seminar (dem Vorgänger des heutigen Instituts für deutsche Sprache und Literatur) gelehrt.
Unter den Dozenten, die sich auf Sprachwissenschaft spezialisieren, sind besonders Isidor Scheftelowitz und Carl Karstien zu nennen, die beide habilitieren.
Beide Lehrende sind jeweils eigenen Fächern zugeordnet, Scheftelowitz der Indo-Germanischen Philologie, Karstien den Fächern Vergleichende Sprachwissenschaft und Kolonialsprachen. Die Fächer bleiben zunächst räumlich und institutionell an das Deutsche Seminar angeschlossen, das sich zu diesem Zeitpunkt im Ubierring 48 befindet.
Das Fach "Indo-Germanische Philologie"
1920 wird an der Universität zu Köln das Fach "Indo-Germanische Philologie" eingerichtet. Es wechselt verschiedentlich seinen Titel (u. a. 1921: Indogermanische Sprachen; 1922: Indogermanistik und Orientalistik; 1924: Orientalische, indische und iranische Philologie) und wird auf der Basis einer Honorarprofessur betrieben. Unterrichtet wird im Ubierring 48.
Gelehrt wird das Fach durch Prof. Isidor Scheftelowitz. Sprachwissenschaft betreibt Scheftelowitz zumeist im Zusammenhang mit orientalistischen und religionswissenschaftlichen Fragestellungen, die sich in seiner Edition der Apokryphen des Rgveda (1906) oder der Monographie "Die Entstehung der manichäistischen Religion" (1922) dokumentieren. Daneben verfolgt Scheftelowitz auch rein indogermanistische Untersuchungen, etwa in dem Aufsatz "Die verbalen und nominalen sk-Stämme im Baltisch-Slavischen und Albanischen" (Zeitschrift für Vergleichende Sprachwissenschaft 56, 161-210).
1933 wird Scheftelowitz aufgrund seines jüdischen Glaubens von den Nationalsozialisten aus dem Amt getrieben. Ab dem Wintersemester 1933/34 unterrichtet Prof. Karstien im Fach "Indo-Germanische Philologie", zunächst für zwei Semester. Das Fach wird im Folgenden, bis 1945, nur unregelmäßig angeboten.
Das Fach "Vergleichende Sprachwissenschaft"
Ab 1924 wird an der Universität zu Köln das Fach "Vergleichende Sprachwissenschaft" von Professor Dr. Carl Karstien gelehrt.
Das Fach hat wechselnde Bezeichnungen (u. a. 1927: Vergleichende (indogermanische) Sprachwissenschaft; 1944: Indogermanische und Allgemeine Sprachwissenschaft).
Das Fach "Kolonialsprachen"
Ab 1941 besteht das Fach "Kolonialsprachen" an der Universität zu Köln, in dessen Rahmen Prof. Dr. Carl Karstien Bantusprachen lehrt. Dabei handelt es sich um Sprachkurse. Das Fach wird bis 1945 angeboten.
Prof. Isidor Scheftelowitz (1875-1934)
Prof. Isidor Scheftelowitz ist in den 20er Jahren Rabbiner und Honorarprofessor in Köln. Er unterrichtet Sprachwissenschaft von 1920 bis 1934.
Nachruf aus der Kölnischen Rundschau vom 2.5.1950:
Vor 75 Jahren am 1. Mai in Sondersleben im Anhaltischen geboren, studierte Isidor Scheftelowitz in Königsberg und Berlin vornehmlich orientalische Sprachen und Religionsgeschichte, legte das Rabbinerexamen ab und wurde dann wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in der Berliner Staatsbibliothek. Nach Studienreisen in England wurde er 1909 Rabbiner der Synagogengemeinde Köln-Ehrenfeld. 1920 habilitierte er sich für indische und iranische Philologie in Köln. Im Jahr 1928 gründete er gelegentlich der Gemeindewahlen in Köln eine "religiöse Mittelpartei". Bereits 1923 war er zum Honorarprofessor für Sanskrit und iranische Philologie an der Universität Köln benannt worden. 1933 wurde ihm durch das Nazisystem die Lehrberechtigung entzogen. Scheftelowitz wurde aber sofort mit dem bekannten Philosophen Ernst Cassirer in Hamburg an die Universität Oxford als Professor für indogermanische Philologie und Religionsgeschichte berufen. Er ist der Entdecker des alten Kölner Judenfriedhofs.
1933 erhält Scheftelowitz Vorlesungsverbot. Mit einem Brief versucht er sich zu wehren:
Hochgeehrter Herr Dekan!
Ende April war mir vom Kuratorium unserer Universität nahe gelegt worden, daß ich vorläufig keine Vorlesungen abhalten solle, bis der Herr Minister in dieser Angelegenheit die Entscheidung getroffen hat. Da nun auf der anfangs Mai veröffentlichten Liste der vom Herrn Minister beurlaubten Dozenten mein Name nicht genannt wurde, glaube ich annehmen zu dürfen, daß ich für das nächste Semester meine Vorlesungen wieder abhalten darf, und gestatte ich mir in dem mir eingesandten Formular die Vorlesungen für das Wintersemester auszufüllen.
In aufrichtiger Hochachtung
I. Scheftelowitz
Als Scheftelowitz die Venia legendi entzogen wird, flieht er 1934 mit seiner Familie nach England. Sein Sohn Brian Shefton (1919-2012), ehem. Professor für Archäologie in Newcastle, erinnert sich in einem Interview (.wav, ca. 19 Minuten). Er kann der Flucht auch angenehmere Seiten (.wav, ca. 1 Minute) abgewinnen.
Prof. Carl Karstien (1893-1961)
Prof. Carl Karstien unterrichtet Sprachwissenschaft in Köln von 1924 bis 1959. Selbst studiert bei H. Hirt und O. Behaghel, bearbeitete er vornehmlich germanistische Fragestellungen, die sich in Werken wie Die reduplizierten Perfekta des Nord- und Westgermanischen (1921) und der Historischen deutschen Grammatik (1939) dokumentieren. Daneben arbeitet Karstien auch sprachvergleichend, wie der Direktor des Deutschen Seminars, Hempel, am 30.12.1942 in einem Gutachten über Karstien schildert:
Daß Karstien nicht einseitig Germanist ist, lehrt der sichere sprachvergleichende Unterbau seiner Werke, lehren auch die einzelnen kleineren Arbeiten, z.B. über "Italo-Germanisches. I. lat. sedere - got. sitan und verwandtes" (Zeitschrift für Vergleichende Sprachforschung 65, 145 ff.). Daß seine Interessen auch über das Indogermanische zu fremden Sprachkreisen und allgemeinen Fragen der Sprachwissenschaft hinüberreichen, weiss ich aus Gesprächen; er ist z.Z. stark beschäftigt mit Fragen der sprachlichen Klassenbildung (Geschlechter etc.) und verfolgt diese Dinge namentlich in die afrikanischen Sprachen hinein (Klassikationspräfixe der Bantu etc.).
1944 wird Karstien zum ordentlichen Professor ernannt. Dieser Zeitpunkt kann als das Gründungsdatum des Instituts für Sprachwissenschaft gelten, das jedoch erst später diesen Namen erhält. Karstiens Ernennung erfolgt ungewöhnlich spät, zumal er bereits über 20 Jahre lang in Köln als Sprachwissenschaftler gelehrt und geforscht hat. Hierüber schreibt der damalige Dekan (in einem Brief an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung am 24. März 1943):
Wenn Herr Professor Karstien bisher nicht auf einen ordentlichen Lehrstuhl berufen wurde, so sind die Gründe dafür nicht etwa in mangelhafter wissenschaftlicher oder [sic] Lehrbefähigung zu suchen, sondern sie liegen darin begründet, daß gegen die persönliche Führung und im Zusammenhang damit auch gegen sein politisches Verhalten Bedenken vorlagen
Hintergrund ist, daß Karstien 1934 das Naziregime offen kritisiert hat. Der Politikstudent Joseph Küppers bezeugte diese Szene. Küppers sah sich "als S.A.-Mann und Parteigenosse verpflichtet" und denunzierte Karstien am 31.01.1934 beim zuständigen Staatskommissar:
Am 30. Januar d. J. traf ich in einer hiesigen Wirtschaft den Herrn Privatdozenten Karstien vollkommen betrunken. Dieser äußerte, dass es ihm in der 'Schule' nicht einfalle, mit deutschem Grusse zu grüssen. Auch bemerkte Herr Karstien, dass ihm 'die rote Fahne' - er meinte damit die Hakenkreuzflagge - nicht passe (...). Im weiteren Verlauf der Führerrede [die im Radio übertragen wurde], sagte er, es sei schade, dass er nicht in Bonn sei, um dagegen zu sprechen.
Karstien bleibt lange Zeit auf den Status einer Honorarkraft beschränkt. Als er 1943 einen Ruf an die Universität Jena erhält, lehnt er dieses Angebot ab, mit der Begründung, in Köln bleiben zu wollen. Dies nimmt die Kölner Universitätsleitung zum Anlass, Karstien 1944 zum ordentlichen Professor zu ernennen. Das Institut erhält die Bezeichnung Seminar für Vergleichende Sprachwissenschaft.