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UNITYP weiter

Hansjakob Seiler

 

Diese abschließenden Darlegungen sollen zunächst die wichtigsten Begriffe und Bewegungen von UNITYP noch einmal revue passieren lassen. Sie sollen durch stringente Beispiele die obwaltenden Zusammenhänge verdeutlichen und durch Ausräumen mancher Stolpersteine insgesamt mehr Klarheit schaffen.

In einem zweiten Teil sollen sie die Ausbaufähigkeit mancher Begriffe wie „Dimension“ und „Konzept“ aufzeigen und so zu einer Weiterentwicklung des Grossprojektes beitragen.

 

1. Grundlegendes (bisher und weiter)

Wir unterscheiden drei Ordnungsebenen:

1) Die Ebene der einzelsprachlichen Fakten

2) Die Ebene der Allgemein Vergleichenden Grammatik (General Comparative Grammar, s. Lehmann, 1989: 133 ff.)

3) Die Ebene des Konzeptuellen

1) Die Ebene der einzelsprachlichen Fakten

Ad 1) Beispiel Artikel (generisch vs. spezifisch) im Deutschen: ein vs. der mit entsprechenden Kontextvarianten als Feld geordnet:

S1 Das Feld der vs. ein

generisch

spezifisch teilbar (komposit), einführend verbindend, global

[Quelle: Seiler 2000: 153]

Der Mechanismus des Kontinuums Artikel lässt sich auf der einzelsprachlichen Ebene besonders deutlich erkennen.

 

S2 Das Kontinuum der Artikel im Deutschen

Die Linien verbinden topologisch analoge Punkte: generisch in 1 und 1′, spezifisch in 3 und 3′. 2 und 2′ sind kontinuierliche Übergänge. N und N‘ sind ein und dasselbe Nomen, aufgespalten in eine intensive und eine extensive Funktion (vgl. 2 ein Mann der Tat vs. 2′ der Mann des Tages in S1). Topologisch analoge Punkte definieren sich durch Äquidistanz von einem in diesem Schema idealiter angenommenen in der Mitte liegenden Wendepunkt. Diese Eigenschaft ist in den Schemata der übergeordneten Ebene wiederzufinden. Das Kontinuum erweist die Zusammengehörigkeit von ein und der und die Berechtigung der Adresse Artikel.

 

2) Die Ebene der Allgemein Vergleichenden Grammatik

Ad 2) Beispiel: Die Dimension der Identifikation (ID)

 

S3 Die Dimension der ID

[Quelle: Seiler 2000: 149]

 

Abkürzungen:

CHARakterisierung, LOCalisierung, QUALification, © Wendepunkt.
ZUGEHörigkeit, QUANTification, DEIXis

 

Struktur des Kontinuums

Es ist bidirektional; hier durch Linien verdeutlicht. Die Kontinuität ist ablesbar am Grad der morphologischen Komplexität. Parallelen zum einfachen Kontinuum S2: Wendepunkt, vertreten durch einzelne Nomina, insbesondere Personennamen; Techniken in Äquidistanz zum Wendepunkt zeigen identische Merkmale: QUAL zeigt Gen und ZUGEH zeigt Gen, vgl. S2. DEIX zeigt Artikel, d.h. die Adresse des Kontinuums in S2. Die „Verwandtschaft“ ist wie folgt:

Kontinuum Artikel def.-indef. Artikel als Option von Technik DEIX Technik DEIX als Option von ID. Jede Option ist eine Variante von ID.

Klar erkennbar wie beim einfachen Kontinuum ist auch der Wendepunkt © mit u.a. dem einfachen Nomen. Was fehlt in der Darstellung, ist die Dynamik, hier die Lesart von links nach rechts (gewohnheitsmässig) oder umgekehrt. Darüber im nächsten Abschnitt.

Wichtig im Schema sind die Bezeichnungen der Kurven: Präd/Inhalt und Ind/Referenz. Sie entsprechen den gleichlautenden Bezeichungen im einfachen Kontinuum. Präd bedeutet, dass der Inhalt der Dimension dargestellt wird durch Prädikation, Aussage oder Beschreibung; Ind bezieht sich auf das Zeigen, den Verweis auf den Inhalt.

 

2. Typologie der Dimensionen

Ein Vergleich der bisher gefundenen und beschriebenen Dimensionen könnte die oben genannten Probleme einer Lösung näher bringen. Die folgenden Dimensionen sind in den bisherigen Publikation behandelt:

1) APPREHENSION – die sprachliche Erfassung des Gegenstandes
(LUS 1, i, ii, iii)

2) NOMINATION – die Benennung eines Gegenstandes (LUS 8, 161)

3) IDENTIFIKATION – die Bekanntmachung eines Gegenstandes
(LUS 8.41–158; Bulletin de la Société de Linguistique de Paris, 105.7–33)

4) NUMERATION – die Relation des Zählens von Gegenständen
(François-Swiggers, Verzeichnis, Nr. 142)

5) POSSESSION – die Relation des Besitzes (LUS 2)

6) PARTIZIPATION – die Relation der Beteiligung (LUS 6)

7) OPPOSITION – die Relation der Polarität (Studies in Communication Sciences 4:1 (2004) 183–200)

 

Eine Übersicht über diese Dimensionen findet sich in Seiler, LUS 8.160–174. Auffällig ist ihre Bezeichnung durch Abstrakt-Nomina, die eine Aktivität und ein Resulat beinhalten. Alle sieben Dimensionen erlauben eine Darstellung ihres Inhalts durch zueinander konvers verlaufende Kurven wie in S3. Diese bilden in jeder Dimension Aktivitäten ab: Prädikativität (präd) (Beschreiben, Inhalt) vs. Indikativität (ind) (Zeigen, Hinweisen).

Sie verlaufen jeweils konvers von einem Maximum zu einem Minimum morphologischen Aufwandes.

Die Dimensionen unterscheiden sich, je nachdem, ob der START beim Maximum der Indikativität oder beim Maximum der Prädikativität liegt. Zur Dimension gehört, wie zum einfachen Kontinuum, die Bewegung, hier am Anfang vs. am Ende des Durchlaufs. Das Schema S4 zeigt die Verhältnisse für die sieben Dimensionen:

 

S4 Verteilung der Maxima und Minima auf Anfang vs. Ende der Dimension

Die Verteilung ist nicht zufällig. Es fällt auf, dass bei den drei ersteren Dimensionen – darunter ID – Prädikativität am Anfang steht, bei den letzteren vier steht die Indikativität am Anfang. Die letzteren zeichnen sich durch einen relationalen Ausdruck aus, meist ein Nomen, das den Hinweis impliziert, während das, was ausgedrückt wird, den Inhalt schon vorwegnimmt. Die auf den START folgenden Positionen auf der Dimension zeigen dann vor allem den Inhalt und sind prädikativ.

Hier noch zur Erläuterung des eben Gesagten die Situation der vier letzteren Dimensionen im Detail:

Der Vergleich aller sieben Dimensionen zeigt uns die beiden Kräfte Indikativität vs. Prädikativität, wie sie den Inhalt einer Dimension in der Art eines Feldes bestimmen. Sie tun dies in einer Dynamik, gekennzeichnet durch die Kurven, deren spiegelbildlicher Verlauf alle möglichen Varianten des durch die Dimension dargestellten Inhalts erfasst. Es bedarf darüber hinaus keiner weiteren morphologischen Kennzeichungen für den Inhalt.

 

3. Ebene 3: „Konzepte“

Das Folgende scheint zunächst dem soeben Ausgeführen zu widersprechen. Die oben unter 2.2. aufgeführten nach gleichem Schema gebauten Namen sind die jeweiligen Bezeichnungen oder Adressen der jeweiligen Dimension, gehören also notwendigerweise zu ihr. Unter dem Sammelnamen „Konzepte“ schien dies unseren früheren Darstellungen der direkte Startpunkt für die direkte Fortsetzung in den Ordnungsdimensionen zu sein. Diese Sicht bedarf der Revision in den folgenden Punkten:

1) Die Konzepte sind nicht der Startpunkt der Dimensionen, weil sie sich auf einer anderen, übergeordneten Ebene befinden. Es ist die Ebene der Pragmatik bzw. Metasprache (Sprache über Sprache). Die genannten Bezeichnungen gehören genau zu dieser Ebene, als solche sind sie nötig.

Wir kehren zum Zwecke der Konkretisierung wieder zu einer einzelnen Dimension, der IDENTIFIKATION (ID), zurück. Das Schema S3 repräsentiert den vollständigen Inhalt der ID. Die Ebene der Pragmatik bzw. Metasprache erlaubt die Adresse dieses Inhalts. Sie würde auch noch weiteres erlauben, z.B. Definitionen: „ID ist eine Tätigkeit und zugleich ein Resultat“, oder: „ID ist, wenn…“. Das sind Resultate eines eher philosophischen Zugangs. Sie widerspiegeln die dominant prädikativen Techniken von CHAR und LOC in Schema S3.

2) Am anderen Ende des Schemas S3 stehen die dominant indikativen Techniken: QUANT DEIX. Der Aufwand an Morphologie ist hier gering: ein, der, er, ich usw. Wenn nun trotz diesen sparsamen Mitteln ein Inhalt der ID evoziert werden soll, so muss das mit aussergewöhnlichen Mitteln geschehen, und das sind solche, die nicht in der für ID konstitutiven Ordnungsdimension vorgesehen sind. So wie zu dem dominant prädikativen Bereich philosophisch gefärbtes Argumentieren eine Rolle spielt, so finden wir zum dominant indikativen Bereich Ausdrucksweisen pragmatischer Art, z.B. A: „Wer war das?“ B: „Ich war’s“, zweifellos ein Kontext der ID.

Ein volles Verständnis dieses Diskurses benötigt gewisse Ergänzungen: Wer? sc. es können mehrere Bs sein; A ist legitimiert als Fragender nach der Identität von B/Bs; war sc. Etwas ist geschehen; Hinweis auf Täter; das sc. Etwas Bestimmtes, vielleicht Unerwünschtes; B weiss, worum es sich handelt; ich sc. B identifiziert sich, aber nicht vollständig: Wer ist ich? Blosser Hinweis (indik); gemeinsame Hör- und Sicht-Gegenwart von A und B notwendig; war’s sc. ich vervollständigt Identifikation durch Prädikation (präd), die die Identität von war’s und war das bestätigt. [Zu dieser Art von Bedeutungsanalyse vergleiche man C.J. Fillmore und D. Terence Langendoen (eds.) 1971].

 

4. Schlusswort

Wir haben Kontinuierlichkeit als das Leitmotiv der Forschungen von UNITYP noch einmal aufgezeigt, und zwar in der Form des einfachen Kontinuums auf der Ebene der sprachlichen Äusserung und auf der Ebene der General Comparative Grammar als Dimension.

Ein Vergleich aller bisher erforschten und publizierten Dimensionen zeigte uns, dass ihnen allen die beiden fundamentalen Strukturprinzipien der Indikativität und der Prädikativität gemeinsam sind. Dies gilt sowohl für eine einzelsprachliche Dimension wie ID, als auch für die Dimensionen, in denen Phänomene aus verschiedenen Sprachen die Techniken liefern, z.B. POSSESSION. Man könnte also im Bereich der ca. 7 Dimensionen von Universalität sprechen – freilich ein winziger Bereich gemessen an dem, was in den Sprachen der Welt alles zu finden wäre.

Wir schliessen – wie wäre es bei UNITYP anders – wieder mit einer Reihe von Fragen:

Was für Dimensionen können noch gefunden werden?

Wie sähen diese aus?

Welchen Beitrag könnten sie zur Erkenntnis wirklicher Universalität in der Sprache liefern?

 

Literatur

Fillmore, Charles J. & D. Terence Langendoen (eds.). 1971. Studies in Linguistic Semantics. New York: Holt, Rinehart & Winston.

François, Jacques & Pierre Swiggers. 2008. Hansjakob Seiler. Notice Bio-Bibliographique. 2008. Leuven: Centre International de Dialectologie Générale.

Lehmann, Christian. 1989. Language Description in General Comparative Grammar. In Graustein Gottfried & Gerhard Leitner (eds.), Reference Grammar and Modern Linguistic Theory, 133–162. Tübingen: Max Niemeyer.

Seiler, Hansjakob. 1983. POSSESSION as an Operational Dimension of Language. Language Universals Series (LUS) 2.

Seiler, Hansjakob. 2000. Language Universals Research: A Synthesis. Language Universals Series (LUS) 8.

Seiler, Hansjakob. 2004. Polarität, Sprache und Kommunikation. Studies in Communication Sciences 4(1). 183–200.

Seiler, Hansjakob. 2010. Le continuum linguistique et la relation entre un invariant et ses variantes. Bulletin de la Société de Linguistique (BSL) de Paris CV: 7–33.

Seiler, Hansjakob (ed.). Language Universals Series. Vols. 1 (1i, 1ii, 1iii) (1981) – 8 (2000). Tübingen: Gunter Narr Verlag.

Seiler, Hansjakob & Waldfried Premper (eds.). 1991. PARTIZIPATION. Das sprachliche Erfassen von Sachverhalten. Language Universals Series (LUS) 6.

Seiler, Hansjakob (ed.). 2015. Das Konzept der Objektrelation und das Kontinuum ihrer Varianten: Ein muttersprachlicher Zugang. LINCOM Studies in Theoretical Linguistics 57. München: LINCOM Europa.

 

Meinen Freunden Yoshiko Ono (Zürich), Christian Lehmann (Erfurt), Werner Drossard (Köln), Jürgen Broschart (GEO Hamburg) danke ich herzlich für wertvolle Verbesserungsvorschläge. Für allfällige Unebenheiten bin ich alleine verantwortlich.

Hj.S.